Bevor ich es nie schreibe, versuche ich es jetzt - ich finde es toll, dass das Forum plötzlich so belebt ist, habe aber gar nicht viel Zeit, um mich so wie früher zu beteiligen.
Diejenigen, die den Film noch nicht gesehen haben, sollten mein Geschreibsel vielleicht erst danach lesen. Oder auch gar nicht.
Zunächst - der Film ist handwerklich gut gemacht, die Hauptdarstellerin Helena Zengel hervorragend!
Bei uns wurde der Film in der Tagespresse einseitig angekündigt, zur Premiere war die Regisseurin Nora Fingerscheid anwesend, ein paar Tage später auch der Pädagogik-Forscher Menno Baumann, man konnte damals reservieren, aber ich hatte damals so viel zu tun und so konnte ich diese Termine nicht wahrnehmen. Ich war dann an einem ganz "normalen" Tag, später wurden noch einmal Nachbesprechungen angeboten, aber ein 2. Mal wollte ich ihn nicht sehen.
Von dem Zeitungsartikel war ich ziemlich aufgescheucht, das Wort "Systemsprenger" hatte ich als Laie noch nie gehört. Natürlich habe ich gleich mal im Internet geguckt und auf social.de einen Bericht über Tagung im Dezember 2015 "Das Begriffsmonster Systemsprenger und der schwierige Auftrag an die Kinder- und Jugendhilfe dieses Phänomen zu verhindern". In den Anfängen meiner ehrenamtlichen Tätigkeit für Menschen mit ADHS haben wir immer einen Katalog verteilt mit dem Titel "Können Veraufhaltensauffälligkeiten auch körperliche Ursachen haben" (oder so ähnlich). Deshalb habe ich immer ein bisschen ein komisches Gefühl bei Pädagogen verschiedenster Richtungen, die dies verneinen.
Bei dem Vortrag kam dann eine Professorin Dr. med. Katja Becker zu Wort zum Thema "Risiko - und Schutzfaktoren aus entwicklungspsychologischer Sicht, ebenso wie eine Professorin mit gleichem Nachnamen - Dr. Nicole Becker, Erziehungswissenschaftlerin, Vortrag "Das Gehirn als Argument" = taugt nichts, ".....das Kerngeschäft pädagogischen Handelns gerät aus dem Blick, .... eigene Maßnahmen und Interventionsstrategien werden nicht ausgeschöpft...."
Nun hatte ich vorher auch viel im Netz gelesen, erfahren dass die junge Regisseurin mal einen Film mit einem Mädchen machen wollte, weil sie bei den Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm in einem heim für obdachlose Frauen ein 14-jähriges Mädchen kennen gelernt habe, das nicht woanders untergebracht werden konnte.
Ich versuchte mir den Film "vorurteilsfrei" anzusehen, was aber gar nicht mehr möglich war. Irritiert hat mich beispielsweise der Name des Mädchens "Benni", - zuallererst meinte ich, dass es um einen Jungen geht, aber der Name ist abgeleitet von "Bernadette". Und den Grund für ihr Verhalten, eine Trauma in der sehr frühen Kindheit, als ihr eine Babywindel ins Gesicht gedrückt worden ist, hatte man auch schon vor der Aufführung erfahren können.
Ich tue mich ein bisschen schwer, diesen Film zu beurteilen, befürchte, dass sich die Kluft zwischen Pädagogik und Medizin sich weiter vertiefen wird, dabei bräuchten wir eine enge Vernetzung zwischen den zuständigen Indstitutionen - Jugendamt, freie Träger, Beratungsstellen, Kitas und Schulen, Gesundheitsamt, Frühförderstellen, Kliniken, Kinder-und Jugendärzten und Psychiatern.
Konkret verwundert hat mich - ich hoffe, ich erinnere mich richtig, - dass sie eine (Trauma-)Therapie erst erhalten soll, wenn sie "wo angekommen ist", - das Kind ist neun Jahre alt!
Wenn jemand Lust hat, kann sich das Gespräch mit Menno Baumann im Deutschlandfunk Kultur vom 08.12.2019 anhören. Dauert, glaube ich, ca. eine Stunde, ich habe nur den Anfang geschafft.
Es soll in Deutschland bei ca. 5.000 "Systemprenger" in der Kinder- und Jugendhilfe geben - ich nehme an pro Jahr gerechnet -. Und sie sollen in allen gesellschaftlichen Schichten vorkommen. Für mich wäre das ein Grund, mal auf ADHS hin zu untersuchen (Benni ist ja in der Klinik, und bei dem Aufenthalt in der Hütte ist ein Medikament zu sehen, welches sie nicht nimmt, wenn ich mich recht erinnere, sah es aus wie eine Kapsel MPH).
Ich habe selbst ein Kind großgezogen, dass sehr lange Emotionsregulationsschwierigkeiten hatte und am Ende des Films war ich froh, dass ich nie ein Jugendamt von innen gesehen habe.
Fazit: alles ist verbesserungswürdig, aber leider wird dieser Film verpuffen, ich befürchte sogar, dass der Mutter übermäßig die Schuld gegeben wird. Aber, wie gesagt, ich bin Laie, mit Erfahrung, wie es ist, wenn man Kinder groß zieht, die aus dem Rahmen fallen.
Auch lesenswert: Der Kommentar zu Systemsprenger der
www.familie-mit-adhs.de.
Der nächste Film, den ich mir ansehen werde, ist garantiert die Neuverfilmung von "Little Women" mit Saoirse Roan.
Danke fürs Lesen.
Hoffentlich nicht zu viele Fehler drin, sonst müssen sie drin bleiben, weil man ja wohl nur innerhalb einer Stunde korrigieren kann.
Gute Nacht!
P. S. Für Menschen, die mit solchen Kindern arbeiten, könnte auch mal das Buch von Karsten Dietrich "ADS - Die Einsamkeit in unserer Mitte" interessant sein.